Bildungspolitik – Förderung von Kindern aus bildungsfernen Familien

Wir haben kein Erkenntnisproblem – wir brauchen Mut zur Tat, aber es wird lange dauern

Das war die Quintessenz der Veranstaltung am 22. August 2024 zum Thema Bildung –
wie können die 30% Kinder, die in Erhebungen wie IGLU oder IQB nicht mal die Mindest-
standards in Lesen, Schreiben, Rechnen schaffen, besser gefördert werden ? Denn wer
solche basalen Kompetenzen nicht hat, schafft meist keinen oder nur einen schlechten
Schulabschluss, findet oft keine Berufsausbildung und steht damit auch dem Arbeitsmarkt
kaum zur Verfügung. Die soziale Spreizung nimmt weiter zu; der Lernerfolg hängt immer
stärker von der Unterstützung durch die Eltern ab. Bildung ist Ländersache, und die Bundes-
länder schneiden auch im Zeitvergleich unterschiedlich gut ab. Insbesondere Hamburg hat
sich in den letzten 10 Jahren deutlich verbessert.

Darüber diskutierten auf Einladung des Politischen Forums mehr Mut zur Tat
Dorothee Feller, Ministerin für Schule und Bildung des Landes NRW
Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, bis 2023 Direktor des Mercator-Instituts für
Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, bis Juni 2024 Mitglied der Ständigen
Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz
Nicole Essing, Leiterin der Iserbarg-Grundschule, Hamburg

Becker-Mrotzek verwies auf die Bedeutung der basalen Kompetenzen in Lesen, Schreiben
und Rechnen. Da bildungsferne Haushalte mit ihren Kindern bis zum Ende der Schulzeit etwa nur ein Drittel so viele Worte sprechen wie bildungsorientierte Haushalte, muss die Grundschule, besser schon die Kita, ausgleichen. Die in NRW nun eingeführten 20 Minuten Lesezeit pro Tag in den Grundschulen tragen dazu gut bei; regelmäßiges Üben sei eben doch wichtig. Auch die frühere Überzeugung, in der Kita müsse und dürfe "sich jedes Kind individuell entwickeln", sei widerlegt; die Kitas müssen sich einem Bildungsauftrag stellen.

Essing wies auf die in Hamburg eingeführten frühen Kompetenz-Feststellungen für alle 4 ½ -jährigen Kinder hin, mit, wenn nötig, verpflichtender Teilnahme an einem Förderjahr (Vor-
schule) im 5. Lebensjahr. Dadurch klaffen insbes. die sprachlichen Kompetenzen der Kinder
in der Grundschule nicht mehr so weit auseinander. Kleine Klassen (maximal 23 Kinder)
erlauben gezieltere Förderung, die durch regelmäßige Tests abgesichert wird. Ggf. werden
Kinder während der Sommer- oder Herbstferien zu ein- bis zweiwöchigen "Lernferien" mit
Üben in kleinen Gruppen und Studenten als Tutoren verpflichtet. Die Schulbehörde evaluiert
die Schulen regelmäßig und bietet bei Bedarf Unterstützung in Form zusätzlichen Personals
oder Budgets für Tutoren an. Darüber hinaus wird der Lehrerfortbildung ein hoher Stellen-
wert eingeräumt: In Hamburg besteht das Recht, aber auch die Pflicht, an 30 Stunden
Fortbildung pro Jahr teilzunehmen. Auch das Modell "Selbstständige Schule", bei dem die
Schulen selbst über ihr Budget und dessen Verwendung entscheiden und daraus bei Bedarf
zusätzliche Stellen finanzieren können, bewährt sich sehr.

Feller, seit zwei Jahren im Amt, sieht selbst großen Nachholbedarf im NRW-Bildungswesen.
Man habe kein Erkenntnisproblem, es brauche aber Mut zur Tat, und man müsse sich auf
einen Marathon einstellen. In Hamburg habe Senator Rabe erst im Verlauf von 10 Jahren die nachgewiesenen deutlichen Verbesserungen erreicht. Auch in NRW seien nun die Basis-
kompetenzen im Fokus. Alle 5-jährigen Kinder werden zum Screening eingeladen, es gebe
Förderangebote. Eine Koordination mit den Kitas scheitere aber noch am Datenschutz. Ein
verbindliches Vorschuljahr sei in Vorbereitung. Die Qualität der Lehrerfortbildung soll in
NRW verbessert werden.

In der Diskussion ging es zunächst um die Einbeziehung der Eltern – nicht nur derjenigen aus bildungsfernen Haushalten. In Hamburg werden Eltern zum Besuch des Unterrichts eingeladen, damit diese verstehen, wie Schule, Unterricht und Lernen/Üben funktionieren. Das Programm GEEG in Gelsenkirchen setzt auf eine niedrigschwellige, regelmäßige Einladung der Eltern, z.B. ein Eltern-Café, weil bei klassischen Elternabenden oft nur wenige Eltern kommen. In Hamburg werden Stadtteil-Vermittler eingesetzt, die auf die Familien in den Communities zugehen. Unbeantwortet blieb die Frage, wie man mit kooperationsunwilligen Eltern umgehen soll, die sich nicht oder zu wenig um das Gebot von Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes kümmern: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."

Für die Sprachförderung der Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache gibt es kein Patent-
rezept. Dass man z.B. ukrainische Kinder zunächst in eigenen Klassen zusammengefasst
habe, habe sich nicht bewährt, so eine Lehrerin aus Gelsenkirchen. Letztlich sei es richtig, sie so früh wie möglich in die regulären Klassen zu integrieren und zusätzlichen Deutsch-Unterricht parallel zu ermöglichen.

Im Rahmen der regulären Lehrerausbildung sind Hospitationen und Tutor-Einsätze für
Studenten sinnvoll, diese sollten aber erst nach ihrer Ausbildung als allein in der Klasse
Lehrende eingesetzt werden.

Kleinere Klassen werden in NRW nur auf lange Sicht möglich sein, auch wenn das Budget für die Schulen im Haushalt 2025ff. von den von den anderen Ressorts verlangten Sparanstrengungen ausgenommen werden und sogar noch auf 24 Mrd. Euro ansteigen soll. Frau Feller dankte allen Lehrerinnen und Lehrern für ihren Einsatz. Das Politische Forum Mehr Mut zur Tat wünschte ihr noch eine längere Zeit als Ministerin, um die Qualitätswende im Bildungswesen auch in NRW vorantreiben zu können. Großer Beifall für die Referentinnen und den Referenten.

Hier finden Sie einen Pressebericht der Westfälischen Nachrichten.